Dem Alltagsstress entfliehen: Hin und wieder setze ich mich in einen Zug und lasse bei einer Fahrt ins Blaue die Seele etwas baumeln. Während ich entspanne, fallen mir die Gemütslagen von Mitreisenden immer speziell auf. So auch bei meiner letzten Fahrt ins Bündnerland.
Blick aus dem Zugfenster auf den Holzsteg zwischen Rapperswil SG und Hurden. Herbstliche Farben im Unterengadin. Im Postauto von Scuol nach Martina. Kaiserliche Schlösser im Tirol: Das Schloss Landeck.
Ein wunderbarer Herbsttag kündigte sich an. Knallig rote Schleierwolken zierten den Morgenhimmel. Ich stand am Bahnhof Pfäffikon SZ und bestieg spontan eine S-Bahn über Rapperswil SG nach Ziegelbrücke. Ich machte es mir sonnenseitig am Fenster gemütlich und genoss die Fahrt über den Seedamm. Ein wahrlich wohltuender Anblick, welchen ich in einem Bild (siehe Bildergalerie oben) festhielt.
Die Fahrt ging dem Obersee entlang. Kurzer Zwischenhalt in Schmerikon. Die Abteiltür öffnete sich und ein Ehepaar trat ins Abteil. Ausgerüstet mit Einkaufswagen und Gratiszeitung machten auch sie es sich bequem. Die Dame griff in ihre Handtasche und zückte ihre Handyladekabel. „Wieder nichts da“, nervte sie sich. Nicht das erste Mal schien sie verzweifelt eine Steckdose im Zug zu suchen. Doch dauerte es nur wenige Sekunden, da kam der Stromanschluss unter dem Tisch zum Vorschein. „Im hintersten Loch platziert. Sodass man es ganz sicher nicht findet“, kommentierte sie ihren Fund.
In Ziegelbrücke stand der Umstieg in Richtung Landquart an. Nur die Gratiszeitungen blieben im Zug zurück. „Lass das!“, meinte die Dame, als ihr Mann die Zeitung draussen in der Papiersammlung entsorgen wollte. Ich durfte meine Reise mit dem Ehepaar noch etwas fortsetzen. Der RegioExpress ab Ziegelbrücke wurde heute leider aufgrund von Bauarbeiten mit einer Ersatzkomposition geführt und verkehrte von einem anderen Gleis. Somit war kein ebenerdiger Einstieg und perrongleicher Umstieg möglich. „Das Hinterletze!“, wusste der Herr es zu kommentieren. „Ansichtssache“, dachte ich mir.
Die Reise fand am Walensee ihre Fortsetzung. Die Sonnenstrahlen fielen in mein Gesicht. Der Ausblick auf den See entzückte mich auch bei meiner gefühlt tausendsten Fahrt auf dieser Strecke. Auch das Ehepaar schien die Fahrt nach dem Stress in Ziegelbrücke etwas geniessen zu können. Doch das nächste Unheil liess nicht lange auf sich warten.
„Drei Minuten zu spät!“, tönte es aus dem Abteil vor mir, als wir den Bahnhof Bad Ragaz erreichten. Verdutzt schaute ich auf mein Handy. Tatsächlich hatten wir auf der Strecke etwas Fahrzeit liegen gelassen. „Also ehrlich!“, antwortete die Dame kopfschüttelnd. Das Versagen der Bundesbahnen schien komplett.
Gut war da bereits ein Ende dieser Odyssee in Sicht. In Landquart trennten sich nämlich unsere Wege. Das Paar bog ab in Richtung Fashion-Outlet und ich setzte meine Reise über Scoul-Tarasp und Martina GR nach Landeck (AUT) fort. Dennoch liess mich diese Begegnung so schnell nicht in Ruhe.
Ja, auch ich habe mal einen schlechten Tag und mein Wohlbefinden muss sich nicht immer mit allen anderen Menschen decken. Ja, auf der Schiene passieren täglich Dinge, die nicht dem entsprechen, was man sich davon verspricht. Und ja, gerade die vergangenen Monate waren für viele unter uns nicht einfach.
Und trotzdem lösen einige Kommentare und Meinungen bei mir einiges an Nachdenken aus. Wohlverstanden: Man soll auch in unserem wohlhabenden Land etwas kritisieren und hinterfragen. Und doch müssen wir aufpassen, dass wir mit unseren hohen Erwartungen nicht auf die Schiene des Nörgelns, Jammerns und Motzen abdriften.
Wenn uns etwas fehlt, dann ist es wohl in den meisten Fällen die Zeit. Zeit um unserer Seele etwas Gutes zu tun. Es muss ja nicht immer eine zehnstündige Zugfahrt sein. Ein Spaziergang ins Grüne? Ein Moment der Ruhe im Wald? So manches lässt mich jeweils Durchschnaufen. Meine Zugfahrt ins Bündnerland hat mir jedenfalls eines in Erinnerung gerufen: Wir dürfen das Schöne nicht aus den Augen verlieren.
Ciao
Sehr amüsant geschrieben 👍
Sehr gerne wieder 😆
Grüassli us Chur
Claudia 🌻
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